SOZIOLOGIE , 5 1 . J G . , H E F T 3 , 2 0 2 2 , S . 2 4 5 – 2 5 5
Heinz Bude
Es gibt die Klage in unserem Fach, dass die Soziologie bei der Deutung wie bei der Bewältigung der SARS-CoV-2-Pandemie durch andere Wissenschaften insbesondere durch die Epidemiologie und durch die Virologie an den Rand gedrängt worden sei. Darin schwingt der Vorwurf an die Politik mit, dass man durch die Hinzuziehung von soziologischem Sachverstand die Eindämmung der Seuche zielgenauer und gerechter hätte bewerkstelligen können. Man hätte dann bei der Art und Weise der Durchführung der Lockdowns die doppelte Belastung der Frauen als Mütter schulpflichtiger Kinder und als Beschäftigte im Homeoffice, die Gefährdung von Heranwachsenden in ihrem »Jugendirresein« (Eduard Spranger) oder mit ihren Abwehrmechanismen (Anna Freud) durch die Abschneidung von außerhäuslichen Aktivitäten, die Benachteiligung von Kindern aus bildungsschwachen Haushalten mit geringem digitalen Equipment, die speziellen sozialräumlich bedingten Ansteckungsgelegenheiten, die massive Exposition des »Dienstleistungsproletariats« und die differentielle Vulnerabilität von älteren und hochbetagten
Personen berücksichtigen müssen. Der Test, ob die Aufbietung entsprechender soziologischer Daten an den Maßnahmen wirklich etwas geändert hätte, ist der Soziologie als Disziplin erspart geblieben. So beschränkt sich der von der Öffentlichkeit wahrnehmbare Einfluss der Soziologie auf Vermutungen über die Steigerung häuslicher Gewalt, depressiver Belastungsreaktionen, nachhaltiger Bildungsbenachteiligungen, gruppenspezifischer Sterberaten und einer Re-Traditionalisierung des Geschlechterverhältnisses im Zusammenhang mit den jeweiligen Eindämmungsregimes der Pandemie.
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