EGMR-Beschwerde gegen Schulschließungen
Bundesregierung muss sich zu Coronamaßnahmen rechtfertigen.
Stand das Kindeswohl wirklich im Mittelpunkt?
Im Frühjahr 2023 haben wir Beschwerde am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht gegen Schulschließungen als Maßnahme zur Bekämpfung des Corona-Gesundheitsnotstands.
Das Verbot von Unterricht hatte gravierende negative Auswirkungen auf die persönliche und soziale Entwicklung sowie auf die psychische Gesundheit von Schüler:innen. Wissen und Kompetenzerwerb der Schüler:innen haben sich nachhaltig verringert und verschlechtert – mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen:
• mehr Schulabbrecher
• geringerer Wissens- und Ausbildungsstand erhöht Fachkräftemangel
• höhere Inanspruchnahme von Krankenkassenleistungen
• erhöhter Krankenstand
• vermehrt Inanspruchnahme psychotherapeutischer Behandlungen
• Wettbewerbsnachteile als Teilnehmende am Arbeitsmarkt etc.
Wir rügen diesen Verstoß gegen das Recht auf Bildung, gegen das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit sowie gegen die Achtung des Privat- und Familienlebens. Wir sind der Meinung, dass der Eingriff in diese Grundrechte unverhältnismäßig war und mildere Mittel zur Verfügung standen.
Die Bundesregierung musste unsere Fragen beantworten:
- War das Kindeswohl tatsächlich der zentrale Maßstab für die Schulschließungen?
- Inwieweit wurden die Auswirkungen früherer Schulschließungen in der Pandemiezeit bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt?
- Welche Informationen über alternative Bildungsmöglichkeiten lagen vor?
- Welche wissenschaftlichen Studien zu Folgen von Schulschließungen wurden berücksichtigt?
Sobald möglich, werden wir hier auch die Schriftsätze der Bundesregierung veröffentlichen.
Hintergrundanalyse zum Beschluss des Verfassungsgerichtes
Kinder sind am wenigsten gefährdet und am geringsten an der Virusübertragung von allen Bevölkerungsgruppen beteiligt. Sie haben aber die schärfsten und am längsten andauernden Einschränkungen erfahren – mit nachhaltigen schwerwiegenden und vielfach irreversiblen Beeinträchtigungen. Das Gericht muss nun untersuchen, ob die mehrmonatigen Schulschließungen in 2021 grundrechtswidrig waren.
In der Hintergrundanalyse wird ausgeführt, warum Schulschließungen auch angesichts derzeit hoher Inzidenzen nach aktuellster Studienlage nicht gerechtfertigt sind.
Beschluss des Verfassungsgerichtes zu Schulschließungen
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung (1 BvR 971/21) Schulschließungen als Teil eines Gesamtkonzepts der Pandemiebekämpfung für einen kurzen Zeitraum von „gut zwei Monaten“ von Mai bis Juni 2021 unter den besonderen Bedingungen einer Ausnahmesituation (drohender Katastrophe) für zulässig erachtet.
Die besonderen Umstände, die dafür ausschlaggebend waren, liegen heute nicht mehr vor:
- Zum einen sind Impfungen (gemäß STIKO-Empfehlungen) inzwischen allgemein verfügbar.
- Zum anderen liegen inzwischen hinreichend gesicherte Erkenntnisse vor, dass regelmäßige Corona-Testungen an Schulen sowie Hygienemaßnahmen nicht weniger wirksam im Vergleich zu Beschränkungen des Präsenzunterrichts sind, um Infektionen einzudämmen.
- Offene Schulen mit Testungen sind das mildere Mittel.
Häufige Fragen zur Verfassungsbeschwerde
- Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen § 28b Absatz 3 Satz 3 Infektionsschutzgesetz, das am 23. April 2021 in Kraft trat (die sogenannte Corona „Bundesnotbremse“).
- Das Bundesverfassungsgericht hat die Beschwerde angenommen und angekündigt im Oktober / November 2021 darüber entscheiden.
- Durch die Beschwerde werden automatisierte Schulschließungen auf Basis von Inzidenzwerten im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes verfassungsrechtlich überprüft.
- Kinder sind am wenigsten gefährdet und am geringsten an der Virustransmission von allen Bevölkerungsgruppen beteiligt.
- Sie haben aber die schärfsten und am längsten andauernden Einschränkungen erfahren – mit nachhaltigen schwerwiegenden und vielfach irreversiblen Beeinträchtigungen.
- Die Menschrechtsbeauftragte des Europarates hat die Bundesregierung deshalb gerügt – wie es sonst nur gegenüber autoritären Staaten vorkommt.
- Die Verfassungsbeschwerde soll einen Beitrag dazu leisten, dass die Grundrechte von Kindern und Jugendlichen bei künftigen Entscheidungen angemessen gewürdigt und geschützt werden.
- Laut Robert-Koch-Institut (RKI) ist erwiesen, dass von Kindern und Jugendlichen im Präsenzunterricht keine erhöhten Infektionsrisiken für andere ausgehen (Epidemiologisches Bulletin 13/2021 vom 1. April 2021, S. 23 ff).
- Das RKI erläutert darüber hinaus: „Die primäre Quelle von Infektionen sind Haushaltskontakte. Übertragungen in Schulen und anderen Betreuungseinrichtungen spielen eine untergeordnete Rolle.“ (Epidemiologisches Bulletin 33 | 2021 19. August 2021, S. 25)
- Bei ihnen selbst ist die Gefahr von schwerer Erkrankung oder Tod nicht höher als bei anderen Grippeviren.
- Vielmehr gibt es Anhaltspunkte dafür, dass der Präsenzunterricht sich sogar positiv auf das gesamte Pandemiegeschehen (auch mit neuen Virusmutationen) auswirkt.
- Die gesundheitlichen Nachteile reichen von Bewegungsmangel über psychische Leiden wie Angst und Depression bis hin zu dauerhaften und irreversiblen Schädigungen in der Persönlichkeitsentwicklung und im Sozialverhalten.
- Kinder finanziell schwacher Familien sind dabei stärker betroffen, wodurch ihre Zukunftschancen noch weiter sinken.
- Vernachlässigungen durch Eltern werden nicht mehr zeitnah entdeckt. Kontaktbeschränkungen in anderen Bereichen verstärken diese Effekte teilweise.
- Auch das Immunsystem wird durch den deutlich eingeschränkten Kontakt zu anderen Menschen nicht mehr, wie üblich, durch Virenaustausch „trainiert“ und somit anfälliger für Infektionskrankheiten.
- Diese Beeinträchtigungen der Kinder durch das Verbot des Präsenzunterrichts sind mittlerweile umfassend in Studien belegt und wurden nicht berücksichtigt.
- Kinder dürfen nicht reine „Bausteine“ eines Pandemie-Gesamtkonzeptes sein, die ihre Gesundheit und Entwicklungschancen zum Schutz Dritter, namentlich der Wirtschaft und Industrie, opfern müssen.
- Schulen unterliegen ohne ersichtliche Begründung deutlich größeren Einschränkungen als andere Bereiche. Zum Beispiel wurden Arbeitsplätze nicht vergleichbaren Kontaktbeschränkungen unterworfen, obwohl es hier erwiesenermaßen zu viel mehr Ansteckung kommt. Bei geöffneten Schulen sind die Hygieneanforderungen und Auflagen deutlich höher als in der Arbeitswelt.
- Schulschließungen wurden im Eilverfahren, basierend auf Erkenntnissen aus theoretischen Modellierungen als Teil eines „Maßnahmenbündels“, durchgesetzt.
- Es gab offensichtlich keine – rechtsstaatlich jedoch zwingende – Abwägung von einzelnen Maßnahmen. Aktuelle wissenschaftliche Zahlen zur Entwicklung der Pandemie wurden nicht einbezogen. Es fehlten z. B. regionale Unterscheidungsmöglichkeiten, Alter, Saisonalität des Virusgeschehens etc.
- Der Spielraum für alternative und mildere Mittel wurde nicht ausreichend genutzt, um ggf. gezielt gegensteuern zu können.
- Insofern ist davon auszugehen, dass die mehrmonatigen Schulschließungen in 2020 und 2021 nicht erforderlich waren. Sie waren grundrechtswidrig und genügten nicht dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
- Am 7.5.2021 wurde die Beschwerde einer alleinerziehenden Mutter und ihres Sohnes (Grundschüler) beim Verfassungsgericht zu automatisierten Schulschließungen mit fixen Schwellenwerten im Rahmen des IV. Infektionsschutzgesetzes eingereicht.
- Das Eilverfahren wurde abgelehnt, aber die Beschwerde wurde für eine grundsätzliche Entscheidung im Hauptsacheverfahren mit dem Aktenzeichen 1 BvR 1069/21 zugelassen.
- Eine weitere Beschwerde gegen die Einschränkungen des Präsenzunterrichts und die Testpflicht an Schulen mit dem Aktenzeichen 1 BvR 971/21 wird ebenfalls entschieden.
- Nach unseren Informationen wurden über 280 Verfassungsbeschwerden zur Bundes-Notbremse eingereicht und lediglich vier davon vom Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung angenommen.
- Die Annahme der Beschwerden legt nahe, dass auch das Gericht die Notwendigkeit einer Grundsatzentscheidung sieht.
- In den bisherigen ähnlichen Verfahren wurde weder eine umfassende gerichtliche Prüfung vorgenommen, noch die negativen Folgen der Schulschließungen, insbesondere der unumkehrbaren Schäden, ausreichend geprüft.
- Das Hauptverfahren am Bundesverfassungsgericht wird voraussichtlich im November entschieden.
- Das Gesetz ist bereits seit 30.6.2021 außer Kraft gesetzt (Ende der „Bundesnotbremse“). Uns geht es um eine Grundsatzentscheidung, damit künftig die Rechte der Schulen in ähnlichen Situationen gestärkt werden.
- Das Grundrecht auf Bildung soll gewahrt werden, damit die Schule ihrem Bildungsauftrag im Präsenzunterricht angemessen nachkommen kann.
- Die Regierung ließ verlauten, sollte sich durch Mutationen die Pandemie weiterentwickeln, könne sie die Notbremse jederzeit reaktivieren, sofern ein bundesweites, flächendeckendes Phänomen vorliegt.
- Auch Gefahrenprognosen der Regierung bedürfen gerichtlicher Prüfung. Sonst könnte jeder Grundrechtseingriff durch eine entsprechend drastische Prognose gerechtfertigt werden. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wäre dadurch außer Kraft gesetzt. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, fehlerhafte Prognosen nach Erkenntnis der tatsächlichen Entwicklung aufzuheben oder zu ändern.
Das Recht auf Bildung ist von überragender Bedeutung, da davon die gesamte Zukunft und der Lebensweg des Menschen abhängt, letztlich auch seine psychische und physische Gesundheit.
Schulschließungen sind epidemiologische Zwangsbehandlungen und verletzen folgende Grundrechte:
- Art. 2 Abs. 1 Satz 1
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ - Art. 2 Abs. 2 Satz 1
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ - Art. 3 Abs. 1 GG
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ - Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG
„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“
- Inzidenzzahlen und die Art ihrer Ermittlung sind weder geeignet, noch ausreichend spezifisch zur Begründung von deutschlandweiten Schulschließungen.
- Positive Testergebnisse drücken lediglich die Zahl der „Ansteckungsverdächtigen“ und eben nicht die Zahl der „Infektionen“ aus.
- Je mehr Tests durchgeführt werden, desto höher ist die Inzidenz. Genauso umgekehrt: Wird nicht getestet, ist die Inzidenz niedrig.
Eine Verfassungsbeschwerde benötigt Expertise und Rechtsbeistand. Wir haben Rechtsanwälte und Sachverständige beauftragt, Informationen einzuholen, Stellungsnahmen abzugeben und Studien zu analysieren. Die dafür entstandenen Kosten in Höhe von 48.000 EUR wurden über Spenden finanziert.
Aktuell steigen die Infektionszahlen und die Forderung, das Virusgeschehen über erneute Schulschließungen einzudämmen, werden von verschiedenen Seiten wieder erhoben. Doch die vorgeschriebenen Tests der Schüler und Schülerinnen wie die weiteren vorgeschriebenen Hygienemaßnahmen gewährleisten auch bei hohen Inzidenzen einen sicheren Schulbetrieb.
Eine Alternative zu Schulschließungen, die immer wieder erwogen wird, wäre das Homeschooling. Damit würden Schülerinnen und Schüler sehr viel mehr Zeit zu Hause verbringen und dort von weiteren erwachsenen Personen betreut werden. Sie wären damit vermehrt sogenannten „Haushaltskontakten“ ausgesetzt, in denen nachweislich das Infektionsrisiko um ein Vielfaches höher ist als in der Schule.
Somit sind Schulschließungen keine verhältnismäßigen Mittel zur Pandemiebekämpfung. Der Präsenzunterricht in der Schule ist im Vergleich zur „Schule zu Hause“ also sehr viel sicherer.
Auch wenn aktuell unter Schülern und Schülerinnen viele Infektionsfälle festgestellt werden, spricht das nicht gegen offene Schulen. Im Gegenteil: Die obligatorischen Reihentests decken gerade Infektionen auf und verhindern Folgeinfektionen. Unterm Strich wirken offene Schulen mit kontinuierlicher Testung dämpfend auf das Infektionsgeschehen. Das gilt auch für die „Delta-Variante“ und in einer Hochinzidenzphase, wie aktuell.
Schulschließungen sind unverhältnismäßig, solange keine gegenteiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen. Man darf Schulen nicht einfach auf Verdacht schließen. Schulschließungen kämen nur im absoluten Katastrophenfall als ultima ratio, nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten, in Betracht. Die psychischen und physischen Folgen für Schülerinnen und Schüler durch Schulschließungen sind verheerend.
Einzelheiten und Nachweise in Studien und Daten entnehmen Sie bitte hier.
- Wir sind betroffene Eltern, die im Frühjahr 2021 Verfassungsbeschwerde eingereicht haben.
- Wir gehören keiner Partei, Religionsgemeinschaft oder sonstigen Bewegung an.
- Schloss Tempelhof e.V. ist der Rechtsträger der Schule für freie Entfaltung, an die die Kinder der Beschwerdeführer eingeschult sind.